München, Juni 2017
Die (Un-)möglichkeit, Schuld zu bekennen
– Schuld und Ökumene –
Eine Streitschrift von Rudi Armin Kitzmann, Pfr. und Stud.Dir.i.R.
Anders als zur Reformationszeit zählt heute zum Markenzeichen der Evangelischen Kirche das Bemühen, sich selber gut zu finden und harmonische Beziehungen zu anderen Konfessionen und Religionen zu pflegen. An drei Verhaltensweisen wird das besonders deutlich:
1. Stellvertretend Sünde bekennen
2. Für Verstorbene Vergebung erbitten und empfangen
3. Verschiedenheit versöhnen
1. Stellvertretend Sünde bekennen
Ein auffälliger Befund: In unserer Zeit und unserer Gesellschaft sind die Begriffe Sünde und Schuld kaum mehr in Gebrauch. Zumindest der Begriff „Sünde“ stößt weitgehend nur noch auf Unverständnis. Allenfalls in der Zusammenstellung „Verkehrssünder“ wird er noch verwendet. Auch den Begriff „Schuld“ hat man nicht gern. Von Fehlern kann man gerade noch reden. Banker bekennen, nur Fehler gemacht zu haben, auch wenn sie ihre Bank in den Ruin geführt haben. Auch Politiker schließen sich weitgehend diesem Sprachgebrauch an, wenn sie zur Verantwortung gezogen werden. Schuld kann allenfalls noch vor Gericht geklärt und geahndet werden.
Im Gegensatz zu diesem allgemeinen Usus in der Gesellschaft kann sich die evangelische Kirche nicht genug tun mit der Benennung von Sünde und Schuld in ihrer Geschichte:
Zum Reformationsjubiläum 2017 werden besonders Luthers Ausfälle gegen die Juden benannt. Er trage sogar – in der Verlängerung der Wirkungsgeschichte – Schuld am Holocaust. Aus der Zeit des Nationalsozialismus wird u.a. auch das individuelle Verhalten des bayrischen Landesbischofs Meiser und das kollektive Verhalten seiner ganzen Kirche gegeißelt. Aber auch die Schuld an den Religionskriegen wird „vereinnahmt“.
Bischöfe, Kirchenräte und Synoden. bekennen heute mit Eifer die Schuld früherer Generationen. Da sie sich dafür autorisiert glauben, stellen sie auch ihre heutigen Kirchenmitglieder in diesen Schuldzusammenhang. – Doch es ist stets die Schuld von anderen, von der dabei die Rede ist. Die Schuld unserer Vorfahren oder unserer Väter und Mütter im Glauben. Und dafür gibt es zahlreiche Gedenktage wie auch Gedenkorte.
Diese Bereitschaft, Schuld einzugestehen, kann Befriedigung vermitteln. Dabei wird aber etwas Grundlegendes übersehen: Man kann nicht die Schuld anderer bekennen!
Landesbischof Bedford-Strohm tut das aber, wenn er feststellt: „Verantwortung empfinde ich aber sehr wohl heute auch. Denn ich vertrete die ev. Kirche, die damals ihren Herrn und den geringsten seiner Brüder ganz bestimmt etwas schuldig geblieben ist“.
Man kann die Schuld anderer benennen, man kann sie beklagen, man kann auch anklagen, aber man kann sie nicht bekennen. Ein Schuldbekenntnis kann man nur persönlich ablegen.
Wer aber die Schuld anderer benennt und beklagt, der muss wissen, dass er sich damit in die Rolle des Anklägers und des Richters begibt. Und bevor er hier einen Schuldspruch fällen kann, muss er auch einer ausreichenden Verteidigung Raum geben. Er muss nach dem „Warum“ und „Wieso“ nach Motiv und Handlungsspielraum fragen. In Bezug auf die Vergangenheit unserer Kirche geschieht das allerdings – wenn überhaupt – oft nur unzureichend.
Landesbischof Bedford-Strom stellt fest: „Wir können doch im Licht der Rechtfertigungsbotschaft ganz nüchtern über unsere Schuld sprechen.“ Über unsere Schuld heute jedenfalls! Z.B. dass
* die neutestamentliche Botschaft verkürzt wird (die alleinige Heilsmittlerschaft Christi, Kreuz- und Gerichtsworte, stehen nicht mehr im Mittelpunkt),
* das Schicksal verfolgter Christen in aller Welt nur halbherzig und ohne besonderes Engagement zur Kenntnis genommen wird,
* unsere Kirche es ohne hinhaltenden Widerstand zulässt, dass jedes Jahr mehr als 100.000 Kinder im Mutterleib getötet werden und die Rosenheimer Erklärung zur Selbstbestimmung der Frau bisher nicht korrigiert worden ist,
* die biblische Bestimmung von Mann und Frau und der Familie nicht herausgestellt wird, vielmehr geistige und finanzielle Kräfte vergeudet werden zu Gunsten einer Gender-Ideologie,
* die praktizierte Homosexualität nicht als unbiblisch gekennzeichnet wird.
Das wäre von uns Heutigen zu bekennen – und es könnte sogar korrigiert und abgestellt werden (Reue und Buße). Was vergangen ist, kann man aber nur der Gnade Gottes empfehlen.
Von der Schuld anderer Menschen ist in unserer Kirche jedenfalls gern und viel die Rede, aber kaum davon, dass diese auch gerechtfertigte Sünder sein könnten. Sicher, wir schaffen keine Rechtfertigung vor Gott, doch unsere Möglichkeiten sind Einsicht in die eigene Schuld sowie Empathie, Verständnis, Toleranz gegenüber unseren Vorfahren im Glauben.
2. Für Verstorbene Vergebung erbitten und empfangen
Mit dieser Fragestellung beziehe ich mich auf die Ausführungen von Johannes Oesch im Deutschen Pfarrerblatt Heft 5, 2017, 117 Jg, S.282-283.
Seit dem 31. Oktober 2016 in Lund wurden an verschiedensten Orten ökumenische Bußgottesdienste gehalten „zum Heilen der Erinnerung“. Wenn da formuliert wird, „Wir bringen vor dich die Last der Schuld der Vergangenheit, als unsere Vorfahren deinem Willen nicht gefolgt sind, dass alle eins seien in der Wahrheit des Evangeliums“, dann ist das wiederum ein (unstatthaftes) Bekennen von Sünde und Schuld der Vorfahren, sowohl der katholischen als auch der evangelischen.
Diese Gottesdienste zielen aber auch auf Versöhnung und Vergebung, die von Gott und den anwesenden Partnern erbeten werden. Damit stellt sich die Frage, ob man heute für die Sünden der Vorfahren Vergebung erlangen kann. Die ökumenischen Bußgottesdienste suggerieren das. Doch entspricht das auch den Glaubensvorstellungen beider Kirchen?
Für die mittelalterliche Kirche war es selbstverständlich, sich der Sünden der Verstorbenen anzunehmen. Der reiche Schatz der guten Werke, den die Kirche verwaltete, konnte auch ihnen zugute kommen und die Zeit ihres Fegefeuers verkürzen. Bezahlte Totenmessen und weit greifende Ablässe waren Gang und Gäbe.
Und sie sind es auch heute noch in der katholischen Kirche! Es geht dort darum, den Verstorbenen „ die Frucht der Eucharistie, die Gemeinschaft mit Jesus Christus, in besonderer Weise zuzuwenden“. Bezeichnend war, dass auf die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre 1999 in Augsburg das Jubiläumsjahr der katholischen Kirche folgte mit Öffnung der Goldenen Pforte am Petersdom und dem besonderen Ablass.
Daran zeigt sich bereits, dass beide Kirchen von Rechtfertigung sprechen, aber im Grunde genommen damit je Verschiedenes meinen.
So wie die Zuwendung von Ablass und Messe an die Verstorbenen – und damit Vergebung – in der katholischen Kirche zu den unverrückbaren Glaubenssätzen gehört, so unannehmbar ist diese Zuwendung für die evangelische Kirche: Die Vergebung der Sünden der Vorfahren kann nicht stellvertretende gegeben oder empfangen werden. Niemand kann anstelle von verstorbenen Tätern um Vergebung bitten und niemand kann anstelle von Opfern Vergebung gewähren.
Diese unterschiedlichen Glaubenseinstellungen werden aber in den ökumenischen Bußgottesdiensten gar nicht berücksichtigt. Stillschweigend wird die katholische Position als „ökumenisch“ akzeptiert.
Eine weitere Verschärfung dieses Gedankens findet sich bei Johannes Oesch: Auch die Sünden der evangelischen Teilnehmer an einem ökumenischen Bußgottesdienst können nicht vergeben werden. Für die evangelischen Christen ist klar, dass auf rechte Buße auch die Absolution erfolgt. Sie ist gegeben durch den Glauben an das Evangelium, nämlich, dass die Sünde vergeben und die Absolution durch Christi Gnade erworben ist. Nach den Grundsätzen des kanonischen Rechtes aber kann die Absolution evangelischen Christen durch den Priester nicht zugesprochen werden. Wenn also ökumenische Bußgottesdienste gefeiert werden mit Benennung von Schuld und mit Bitten um Vergebung, Versöhnung und Frieden, so stößt das eigentlich ins Leere. Das gilt auch für den großen Buß- und Versöhnungsgottesdienst vom 11. März 2017 in Hildesheim mit dem Ratsvorsitzenden Bedford-Strohm und Kardinal Marx (er konnte übrigens nicht an einem Sonntag gefeiert werden, da zum Sonntag die Messe gehört!).
3. Verschiedenheit versöhnen
„Versöhnte Verschiedenheit“, das ist heute die Zauberformel der Ökumene. Bei näherer Überprüfung taucht aber die Frage auf, ob diese Zusammenstellung „versöhnt“ und „Verschiedenheit“ überhaupt möglich ist. Zur Verschiedenheit der Konfessionen wird oft vorschnell gesagt: „Uns verbindet mehr als uns trennt“. Als Glieder des einen Leibes Christi dürfen wir das glauben. Aber in unserer Antwort auf den Zuspruch seiner Gnade, in zahlreichen theologischen Fragestellungen und auch in Formen der Frömmigkeit, sind wir getrennt. Unüberbrückbar sind die Vorstellungen vom Priesteramt/Pfarramt und von der Eucharistie/Abendmahl. Primat und Unfehlbarkeit des Papstes, Marien- und Heiligenverehrung, Wallfahrten, Ablassformen, die Zahl von sieben Sakramenten und vieles andere ist für evangelische Christen nicht annehmbar. Und die Tatsache, dass diese Elemente kirchentrennend wirken, führte schließlich zum Urteil Papst Benedikt XVI.: Die Evangelischen sind nur eine „kirchliche Gemeinschaft“, keine wirkliche Kirche (in „ Dominus Jesus“).
Die grundlegende Verschiedenheit der evangelischen und der katholische Kirche ist also auch heute noch gegeben – 500 Jahre nach der Reformation. Viele Christen sagen „leider“ und sehen das als Auswirkung der Schuld von vergangenen Generationen. Sie meinen, die durch menschliche Schuld entstandenen Unterschiede heute in einer „versöhnten Verschiedenheit“ auffangen zu können. Dabei wäre aber eine begriffliche Klärung nötig.
Was heißt es, dass „Verschiedenheit“ „versöhnt“ werden soll? Meint „versöhnen“ „ausgleichen“? Wenn Verschiedenheiten ausgeglichen werden, dann existieren sie aber gar nicht mehr. Soll das das Ziel der Kirchen sein, die jeweiligen Verschiedenheiten aufzugeben? Sollen die Evangelischen katholisch werden (Heimkehrökumene) oder die Katholiken protestantisch? Oder ist eine Mischform mit Kompromissen (siehe Erklärung zur Rechtfertigung) intendiert? Das wird so nicht geschehen können.
„Versöhnt“, „versöhnen“ kann sich wohl nur auf den praktischen, alltäglichen Umgang von Christen miteinander beziehen. Der ist aber heute, anders als in Zeiten der Gegenreformation, ohnehin nicht unversöhnlich. Im privaten Bereich gibt es kaum konfessionell bedingte Misshelligkeiten. Die meisten Gemeinden pflegen einen freundlichen ökumenischen Umgang und Kirchenleitungen nehmen gemeinsam ihre Verantwortung in Staat und Gesellschaft wahr. Somit zeigt sich die Formel „versöhnte Verschiedenheit“ als nicht zutreffend, um das Miteinander der evangelischen und der katholischen Kirche zu kennzeichnen. „Respektierte Verschiedenheit“ wäre dagegen das passende und hinreichende ökumenische Bekenntnis. Die sehr unterschiedlichen Kirchen wissen um ihre je eigene Besonderheit und Identität und sind dafür Gott dankbar. Das genügt.
Armin Rudi Kitzmann, Pfarrer und Studiendirektor i.R.
Armin Rudi Kitzmann war nach dem Gemeindedienst in Oberfranken Schulpfarrer am St. Anna-Gymnasium in München. In mehreren Büchern hat er die Geschichte der Münchner Protestanten dargestellt. Zuletzt ist erschienen „Wagnis Widerstand. Evangelische Christen in München gegen den Nationalsozialismus“ Allitera Verlag, 140 S., 14,90 €